Vom Fehlen des Außen

 Lost Highway von David Lynch

 

 

Michael Thamm

Aus dem Text darf nur unter Angabe der Quelle zitiert werden.


Müll hat heute eine Aura des Feierlichen,
einen Aspekt der Unberührbarkeit

Unterwelt, Don Delillo

 

 


Als im Februar 2007 die Opernbearbeitung des Lynchfilms Lost Highway in Amerika aufgeführt wurde, war der Jubel unter den Kritikern groß:

Neuwirth has done more than adapt a movie: She has created an ode to an artwork... A jittery musician; a sadistic gangster; his platinum-wigged moll;
a Mephistophelian lurker; an honest, blue-collar kid... Neuwirth leads you through a landscape of musical explosions and violent images...(New York Newsday)

 

Verantwortlich für die musikalische Adaption war die österreichische Komponistin Olga Neuwirth, das Libretto schrieb sie zusammen mit Elfriede Jelinek.

 

 

I

 

Orientierung

 

 

Damit leisteten sie einen künstlerischen Beitrag zur Interpretation eines Films, dem andere gern mit den Theorien ihres großen Landsmannes und Diskursbegründers Sigmund Freud und dessen Erben Jacques Lacan zu Leibe rücken. Am schönsten in den analytischen Texten von Slavoj Zizek1] und Robert Blanchet[2] nachzulesen. Auch ich werde mich hier zu einem wichtigen Teil auf die Erkenntnisse psychoanalytischer Dekonstruktionstechnik stützen. Aber während Blanchet/Zizek vor allem die Dynamik des Begehrens und des Phantasmas untersuchen, ruht mein Augenmerk eher auf der Analyse der Struktur des technisch implementierten Unbewussten.

Elfriede Jelinek hingegen beugt sich dem Diktum, man könne Lost Highway(1997) einfach nicht interpretieren. Sie schreibt: "Ich kann zum Rätsel 'Highway' nur wenig sagen, weil es ja ein Rätsel ist und auch sein soll. Und bleiben muß." [3] Einige Zeilen weiter fügt sie hinzu: "Ich habe nicht versucht, diese Nicht-Geschichte zu interpretieren, denn es liegt im Wesen dieser Reduktion, daß Interpretation eben nicht möglich ist." [4]

Und schafft in ihrer Betrachtung des Films selbst so etwas wie eine interpretative Beschreibung ihres Umgangs mit dem "Rätsel". Weiter gibt es eine geheime Verbundenheit in den Texten von Jelinek mit den Filmen von Lynch. Dies vor allem durch eine Technik, von der gelegentlich behauptet wird, sie sei ein auszeichnendes Element postmoderner Kunst: Die Neukombination, Arrangements gebrauchfertiger Muster, nah an der Leere, und das in absoluter Überfülle. Die gleiche Technik ist zum Beispiel auch in der unbewussten Witzproduktion am Werk. Lynch bedient sich einer Variante: Er saugt die Klischees des B-Films, die Topoi des Film Noir und des Horrorfilms, speziell der 40er bis 70er Jahre in seine Filme. Jelinek hingegen arbeitet die Second-Hand-Welt des Fernsehens und anderer Massenmedien in ihre Texte ein.

 

Schon dem ersten Leser der Freudschen Traumdeutung, Fließ, war aufgefallen, dass die darin erzählten Träume den Charakter mancher, nicht eben guter Witze aufwiesen. Freud erklärt daraufhin, die Träume hätten deshalb diese Gestalt, weil  dieselben Mechanismen sowohl bei der Traum- wie bei der Witzproduktion wirkten.[5] Ebenso, kann man inzwischen hinzufügen, in so manchem Film. Lost Highway ist solch ein Film. - Man denke nur an die Szene, in der Mr. Eddy zu seiner "Verkehrsbelehrung" mit vorgehaltener Waffe anhebt.

 

Ein Teil des Rätsels von Lost Highway beruht auf der Methode, mit der Lynch aufeinander bezogene Topoi aus der Filmgeschichte verdichtet und verschoben potenziert. Aufgrund seiner "Verdichtung", Schließung, erzeugt er im "Inneren" eine "komplexe Leere", die man sowohl als "sublimen Schmarrn" [6] oder, durch den Recyclingcharakter gestützt, als "Müll" bezeichnen kann.

Hier starrt ein gefesselter Blick auf bereits Gesehenes und kann sich nicht abwenden. Lynch ist von Auflösung, Unterwelt und Ekel fasziniert. 2007 dreht er für die städtische Müllentsorgung in New York ein Werbevideo: In schwarz-weißen Bildern, akustisch untermalt von dräuender Musik zeigt es, wie unverantwortliche Menschen achtlos ihren Müll auf die Straße werfen und damit im Untergrund die Rattenpopulation zu Explosion bringen. Kein Zweifel, seine Faszination gilt den Nagetieren, nicht den Menschen.

 

  

Die Story:

 

Vorspann: Auf einem Highway, in der Mitte durch Fahrbahnmarkierungen aufgeteilt, rast ein Auto durch die Nacht (Subjektive Kameraeinstellung aus dem Autofenster heraus). - Die gleiche Einstellung auf den titelgebenden Highway findet sich am Ende des Films wieder.

 

 

Teil 1

 

Der Saxophonist Fred (Bill Pullman) lebt mit seiner Frau Renee (Patricia Arquette) in einer Welt, die in etwa der in den Bildern Edward Hoppers entspricht. Das Verhältnis ist offensichtlich gestört. Fred blickt gelangweilt und düster an der Kamera vorbei ins Off. Jemand drückt auf den Knopf der Gegensprechanlage, Fred lauscht einer fremden Stimme: "Dick Laurent is dead." [7] Eines Tages entdeckt er vor seiner Wohnungstür Videokassetten, die das Paar im Schlaf zeigen: Jemand muss also nachts in ihr Haus eingedrungen sein. Auf einer Party verwickelt ihn ein merkwürdiger kleingewachsener, bleicher Mann mit aufgerissenen Augen in ein seltsames Gespräch, das Fred Raum- und Zeitkonstanten verlieren lässt. Im Verlauf des ersten Teils bringt Fred Renee um und wird zum Tode verurteilt.

Fred wälzt sich im Gefängnishof auf dem Boden, er "hält’ s im Kopf nicht aus". Und richtig, schon zeigt sich als Beleg dafür eine blaue Verformung an seinem Kopf. In seiner Zelle (oder auf dem elektrischen Stuhl)wackelt Fred in Turbogeschwindigkeit mit dem Kopf.

 

Teil 2

Am nächsten Tag finden die Wärter anstelle von Fred den ahnungslosen Kfz-Mechaniker Pete(Baltazar Getty)in Freds Zelle vor, die Schädelverformung wurde an Pete weitergereicht. In Freiheit verliebt sich Pete in die Gangsterbraut Alice (erneut Arquette), die wie ein blonder Zwilling von Renee erscheint. Alice, im "Besitz" des Gangsterbosses "Mr. Eddy", den die Polizei als Dick Laurent kennt, erwidert scheinbar seine Zuneigung. Sie will sich mit Pete aus dem Staub machen. Zuvor muss jedoch noch Andy, der Gastgeber der ominösen Party aus Teil 1, ein alter Bekannter von Renee, um Geld und Schmuck erleichtert werden. Im Haus von Andy kommt es zum Kampf. Auch Andy "hat’s im Kopf", nur diesmal ist es eine gläserne Tischplatte, in deren Kante er hineinspringt. Während des Geschehens läuft auf einer großen Leinwand die Endlosschleife eines Pornofilms mit Alice, das Gesicht in die Kamera gereckt, die von älteren Mann a tergo genommen wird.

Vor dem Haus des Hehlers (wieder der bleiche Gnom)schicken sich Pete und Alice an, miteinander zu schlafen. Doch plötzlich bricht Alice ab und spricht: "You’ll never have me." Alice verwindet auf dem Weg in die Hütte des Hehlers, Pete ist wie betäubt.

 

 

Teil 3

 

Als er zu sich kommt, hat er sich in Fred verwandelt. Fred fährt zum "Lost Highway-Hotel", beobachtet von einem Nebenzimmer aus Renee, wie sie mit Dick Laurent schläft. Renee verlässt das Hotel, Fred geht in das Zimmer, schlägt Laurent zusammen und sperrt ihn in den Kofferraum seines, Dick Laurents, Mercedes.

Fred fährt zum Haus in der Wüste. Als er den Kofferraum öffnet, springt ihm Dick Laurent entgegen. Der plötzlich anwesende bleiche Gnom reicht ihm ein Messer, Fred schneidet Laurent die Kehle durch. Der mysteriöse Mann gibt dem schwer Blutenden einen Taschenfernseher. Auf dem Bildschirm ist Laurent mit Renée zu sehen, wie er sie küsst, während sie und seine Freunde sich einen Porno ansehen, in dem unter anderem Marilyn Manson einen Kurzauftritt hat(Snuff- Video mit Marily Manson als Opfer). Nachdem Laurent den Fernseher dem Mystery Man zurückgeben musste, spricht er zu ihm: "You and me, Mister. We can really out-ugly them sumbitches, Can’t we? "

Der Gnom erschießt Dick Laurent und flüstert Fred etwas ins Ohr, das der Zuschauer nicht hören kann. Fred nickt.

Inzwischen hat die Polizei Andys Leiche gefunden, überall finden sich Petes Fingerabdrücke. Fred fährt zu seinem Haus,  betätigt die Gegensprechanlage und spricht den Satz vom Anfang des Films: "Dick Laurent is dead." Die Polizei nähert sich Freds Haus, Fred springt in den Mercedes und braust davon. Auf der Flucht wackelt Fred in gewohnter Weise mit dem Kopf.

 

- Abspann

 

 

 Invasion der Dubletten

 

Lost Highway ist ein Film voll von merkwürdigen Figuren. Auf allen Ebenen, allen Enden poppen Doppel- und Wiedergänger auf, bereit, wie Springteufel Dick Laurent aus dem Kofferraum hervorzuschnellen, um die strangulierenden Hände nicht nur um Freds Hals, sondern auch um den Hals jedes Interpreten zu legen. Mit Möbiusbändern ans Analytikerbett gefesselt, müssen sie im Halbdunkel des Kinos dem Zergehen ihres eigenen Nachbildes beiwohnen. - Wenn sie denn wollen.

 

Nachdem er den größten Teil der Formelsammlung von Lacan/Zizek in Anschlag gebracht hat, bemerkt Robert Blanchet:

 

"Fast scheint es uns ja sogar, als habe Lynch in den letzten Jahren nicht nur einfach auf dem Stuhl gesessen, um auf Ideen zu warten, sondern hin und wieder auch ein bißchen Zizek gelesen." [8]

  

In der Tat muss man sich wundern, wie passgenau die psychoanalytische Theorie sich Lost Highway anschmiegt. Zu gut, als dass ihre Entdeckungen nicht zutreffen können? - Hier kann man in Abwandlung einer Bemerkung von Slavoj Zizek in seinem Aufsatz über Lost Highway einen Gedanken variieren. Zizek konstatiert darin, dass die neue Femme Fatale mit der Wahrheit über ihr Begehren insofern lügt, als sie mit dem Unglauben des Geliebten spielt, sie habe insgeheim ein Herz aus Gold: Weil nicht wahr sein kann, was derart dreist offenbart wird. [9] - Oder dasselbe in einer anderen bekannten Variante, zitiert bei Lacan nach Poes " Der entwendete Brief": Darin kann das gesuchte Objekt, der entwendete Brief, von der Polizei nicht gefunden werden, weil es direkt für alle sichtbar aufgehängt ist [10] .- Manchmal versteckt sich das Unbewusste eben durch demonstrative Sichtbarkeit. Für Lost Highway gilt dieses Verhältnis beinahe durchgängig. Demnach kann also die "Urszene" auf der Leinwand in Andys Haus oder die wunderschönen Verästelungen eines klassischen ödipalen Dreiecks durchaus als solches diagnostiziert werden, gerade weil Lynch und sein Co-Autor Barry Gifford sie so klar vor die Augen des Zuschauers/ Analytikers platziert haben. – Ich schlage vor, sich hier der alten Erkenntnisse Freuds über den Traum zu bedienen. Dabei ist Lost Highway kein illustrierter Traum, sondern man bekommt Traumlogik geliefert, sieht die Technik des Traums bei der Arbeit. Den Tagesresten bei Freud entsprechen Filmreste, aufgefunden in den Archiven der Ufa und Hollywoods, angelagert und verändert im Gedächtnis der Drehbuchautoren und mit Lynchs persönlichen Phantasmen garniert.

Weil aber der Film den "neurologischen Datenfluss selber" implementiert [11] wie Hugo Münsterberg in seinem grandiosen Werk "The Film.A Psychological Study.The Silent Photoplay in 1916" ausführt und mit seiner Tricktechnik spielerisch auch jede Traumtechnik ausführt, stimmt seine Feststellung:"… every dream becomes real." [12] Lynch führt die realistische Tradition Lumieres mit der phantastischen Melies’ zusammen in einer ihm eigentümlichen Methode der "Verschmelzung" beider dem Film innewohnender Tendenzen. Vgl. Zizeks Fernsehreihe "The Pervert’s Guide To Cinema". Dort spricht er über "Lost Highway": "What this both films (Mulholland Drive und Lost Highway) make so interesting..., is,how  they posite reality and fantasy side by side."

Fehlt nur noch eine Erklärung für all die Dubletten, die multiplexen Anspielungen und auffälligen Übereinstimmungen zwischen psychoanalytischen Topoi und Inhalten in Lost Highway. Zum einen ist da der Fakt, dass die Psychoanalyse nicht nur, wie Todorov bemerkt, die fantastische Literatur überflüssig gemacht hat [13] und damit auch das klassische Doppelgängermotiv, sondern (Zitat Kittler)

weil Geister bekanntlich nicht sterben, ist neben der Literatur eine neue Phantastik entstanden. Das Kino und seine Drehbuchlieferanten besetzen die von der Romantik geräumten Stellungen….Um Doppelgänger zu erblicken, müssen Leute weder gebildet noch angetrunken mehr sein…. Kinodoppelgänger führen vor, was mit Leuten geschieht, die in die Schußlinie technischer Medien geraten. Ihr Ebenbild wandert motorisiert in Körperdatenbänke. [14]

 

Kein Wunder, dass einem die Hauptfigur Fred/Pete vorkommt, als sei sie das Abbild eines im "wiederkehrenden Spiegel" (Robbe- Grillet) abgefilmten Ektoplasmas mit der psychischen Ausdrucksfähigkeit einer animierten Schaufensterpuppe. Selbst wenn sie zum ersten Mal im Film erscheinen, sind die Figuren bereits Doppelgänger oder Abschattungen neutechnischer Archetypen. Schon, weil McLuhans Feststellung zutrifft, dass der Inhalt eines Mediums nur das historisch vorangegangene sein kann. [15] Zwar kann es keinen Metafilm im eigentlichen Sinne geben, aber Lost Highway verwurstet so ziemlich alles, was die Tradition des Phantastischen Films und des Film Noir zu bieten hat. Diese Filme sind wie Container angesammelten Wissens und Subwissens. Lynch extrahiert die ihm passenden Teile, verschmilzt sie, bläst sie auf, vervielfacht sie, verwischt so seine Spuren und macht Lost Highway durch leicht verschobene Drehungen mit einer Möbiusband -ähnlichen Schleife dicht gegen die üblichen Interpretationen.

Lost Highway ist kein Film über irgendetwas, sondern eine kinematographische Synopse des Film Noir und des Horrorfilms. Oder in der Aufnahme von Elfriede Jelinek:

Der Film suggeriert reale Erlebnisse von Personen, die vom Zuschauer für real genommen werden sollen. Dieser besondre Film aber zerschlägt diese Realitätserwartungen immer wieder, weil nicht real sein kann, was nicht real ist, aber auch nicht real sein soll. [16]

  
Neben den medialen Gründen für das omnipräsente Erscheinen der Doppelgänger lässt sich durch die freudsche Traumdeutung eine ganz einfache Erklärung für deren Existenz in Lost Highway finden. Nach Freud ist der manifeste Trauminhalt überdeterminiert, die Traumgedanken repräsentieren sich gleich mehrfach im  manifesten Inhalt. [17] Ganz im Gegensatz zur "Sammelperson" im Traum von "Irmas Injektion" [18] werden hier im Film die Personen "aufgeblättert". Da gibt es einmal das male- couple in Form der beiden Polizisten, der beiden Überwachungspolizisten im Auto, der Gefängniswärter, der Bodygards von Mr. Eddy. Sie repräsentieren die Überwachungsfunktion von Staatsmacht und Macht der Unterwelt. Renee und Alice repräsentieren das begehrte Objekt, Sheila, Petes Freundin spiegelt, substituiert Renee im zweiten Filmteil. Zwischen Fred/Pete und der Erfüllung seines Begehrens stehen die Vaterfigur Dick Laurent und Andy als dessen Substitut, da er wie Mr. Eddy eine mutmaßlich sexuelle Verbindung mit Renee/Alice hat, die die Hauptfigur "niemals" haben wird. Deshalb müssen auch beide beseitigt werden. Dass Fred und Pete zwei Erscheinungsweisen derselben Person sind, ist evident. Doch einer Person, die sich ihrer selbst nicht gewiss ist und auch nicht der Ordnung der Welt, die sie umgibt:

Der in Fred’ verwandelte Pete fragt den Mystery Man: "Where is Alice?" Der Mystery Man antwortet: "Alice who? –Her name is Renee. If she told you her name is Alice she’s lying."

Der Mystery Man hat vollkommen Recht, denn als Fred kann die Hauptfigur Alice gar nicht kennen, sondern nur Renee. Darauf wird der Mystery Man noch direkter und fragt Fred:" And your name? What the fuck is your name?" –Da Fred die Frage nach seiner Identität nicht beantworten kann, flüchtet er in die Tat.

Als Mephisto, den der Mystery Man zweifellos darstellt, bewegt sich diese Figur frei in Zeit und Raum. Ihn kann es nur einmal geben.

 

 

II

 
Muster

 

 
Der deutsch- amerikanische Psychotechniker und erste Filmtheoretiker Hugo Münsterberg stellt 1916 fest:

 

The photoplay tells us the human story by overcoming the forms of the outer world, namely space, time, and causality, and by adjusting the events to the forms of the inner world, namely, attention, memory, imagination and emotion. [19]

 

Lost Highway erzählt uns die menschliche Geschichte in der Weise, wie sie der Film Noir erzählt. Zwar kann man mit einigem Recht wie Blanchet sagen, dass der erste Teil des Films mehr den Charakter eines Sozialdramas hat [20] , allein die Edward Hopper – Atmosphäre, die unzähligen Retro- Details, nicht zuletzt das Auftauchen der Mephistofigur oder das brutal-hektisch-zerhackte Saxophonsolo von Fred belegen jedoch eine „verschobene“ Welt. Und "dunkel" genug ist das Ambiente von Fred und Renee ohnedies. Während Freds Außenwelt Spiegel seiner eigenen zerrissenen inneren Welt ist, agiert Pete in einem externalisierten Kosmos, dessen Gesetze ihm fremd bleiben. Fred in Teil drei dagegen ist am Ende mit sich im Reinen: Dick Laurent ist tot, die Gesetze der Realität sind wiederhergestellt, seine Repräsentanten ihm auf den Fersen. Oder wohl doch nicht, wie die dritte Metamorphose anzeigt.

 
Filmhistorisch sollen einige ausgewählte Daten die synoptische Struktur von Lost Highway beleuchten:

Der Film Noir ist eine Hollywoodgeburt aus dem Geist des deutschen expressionistischen Films mitsamt seinen Doppelgängermotiven. Emigranten wie Fritz Lang, Robert Siodmak, Edgar Ulmer, Otto Preminger prägten seinen Stil, Hitchcock, der in den 20ger Jahren in Deutschland an einigen Filme mitarbeitete, ergänzt die Gruppe. Zusammen mit der Stimmung der 40ger Jahre, durch literarische Vorlagen von Chandler und Hammet amerikanisiert, repräsentieren die so entstandenen Filme eine Art Gegenwelt zum American Way of Life. Darüber hinaus transportieren sie neu eingespeiste Reste der phantastischen Literatur. Zwei Filme sind paradigmatisch für die neumediale Einmündung in Lost Highway. Da ist einmal der Film "The Killers"(1946) von Robert Siodmak nach einer Erzählung von Ernest Hemingway und dann "Vertigo"(1958) von Alfred Hitchcock. Interessanter Weise übernahm im Remake von "The Killers", Don Siegels "Tod eines Killers"(1964) Ronald Reagen die Vater-Gangsterboss-Figur als seine letzte Filmrolle, bevor er erst die Gouverneur-, dann die Präsidentenrolle übernahm. Vielleicht ein Hinweis für Zizek, der so gern Vaterfiguren in Lost Highway entdeckt. [21]

Die Konstruktion zweier gleich aussehender Frauen, die möglicherweise identisch sind, stammt aus Vertigo. Einige Nichtübereinstimmungen mit dem Vorbild können hier kein Gegenargument sein, da Lynch so gut wie nichts direkt übernimmt, sondern im Gegenteil peinlich genau darauf achtet, dass wenigstens ein wichtiges Detail nicht genau passt. Dies nur an die Lynch-Enthusiasten, die immer wieder betonen, wie kreativ Lynchs Umgang mit seinen Vorbildern ist. Denn sofort müsste ein Analytiker dem Einwand folgend neu ansetzen, wenn er einen Diebstahl bemerkt haben will. Muss er nicht, denn Lynch verwischt seine Spuren, manchmal auch durch Ausstellen des Diebesguts.

Ein sehr schönes Beispiel für die Übernahme von Szenen aus der Hitchcockwelt ist die Anfangs- und Schlussszene von Lost Highway. In Hitchcocks North by Northwest(1959) rast Cary Grant, als Roger Thornhill von Gegenspielern zwangsweise betrunken gemacht und an das Steuer eines Wagens mit zerschnittenen Bremsleitungen gesetzt, nachts auf der Flucht vor der Polizei einen Highway entlang: Durchbrochene Fahrbahnmarkierungen rasen auf die  Windschutzscheibe- Filmleinwand zu. Auch Cary Grant hat’s im Kopf. Immer wieder wackelt er, durch Alkohol in seiner Wahrnehmung irritiert, ungläubig damit hin und her. – Aber wo bei Hitchcock Humor und Witz aufgeboten werden, setzt bei Lynch die Metamorphose ein.

Der Film Noir ist wie der B- Film und der Porno die Rückseite der glänzenden Hollywoodwelt. Hier, im zunächst billigen Genre, konnten manche begabten Filmautoren mehr wagen, expliziter sein als im Mainstream- Kino. Und so erzählt der Film Noir in symbolischer Form die "human story" aus der Perspektive ihrer Nachtseite. Lynch muss aus einem Zwang zur "Rücksicht auf Darstellbarkeit" traumanalog oben genannte Filmgenres bedienen. Sie finden sich allesamt in Lost Highway wieder. Einfach deshalb, weil auch die Vorbilder, z.B. The Big Sleep(1946) schon Pornographie –Konnexe enthalten.

Lynch zitiert nicht etwa kinematographische Vorbilder in der Art, wie es man dies von Godard kennt. Godard macht seine Zitate sichtbar, sie kommentieren gelegentlich den sie umgebenen Film, sind oft ironisch gebrochen. Nicht so bei Lynch, der seine Samples neu verschweißt, ihnen einen anderen Dreh gibt, sie leicht verschiebt, neu einwebt. Deshalb ist auch die Bezeichnung Collage nicht angebracht. Hier müsste man Nahtstellen bemerken, zudem werden durch konsequent durchgehaltenes Sound- und Bilddesign alle divergierenden Elemente egalisiert.
Lost Highway ist ein gänzlich aus bekannten Topoi komponierter Film ohne Umgebungsbezug, gebaut mit Techniken, die aus dem Traum bekannt sind. Weil aber die Traumtechnik und die Welt der Psychopathologie auf denselben Grundlagen beruhen, sowie der Film den "neurologischen Datenfluss" (Münsterberg: Mind!) implementiert, kann Lost Highway wahlweise als Traum, subjektive Wahrnehmung eines Schizophrenen oder als Metafilm gelesen werden. Das erklärt auch die Psychogenität des Films.

Ein Betrachter des Films Lost Highway hat so immer den Eindruck, einen Film gesehen zu haben, den er bereits kennt, er weiß nur nicht genau, woher. Manchmal weiß er auch nicht einmal, was er gesehen hat.

Das Neue daran ist das Alte darin. Es gibt in der Filmgeschichte ein partielles Vergessen, das mit zunehmender Zeit immer schneller voranschreitet. So ist das Wissen über die Codierungen des Sexuellen oder des Unbewussten aus den vierziger Jahren soweit zugeschüttet, das sie beim Wiederauftauchen in einem Lynch-Film als innovativer Stil gefeiert werden können.

 
"Der Traum ist eine Wunscherfüllung." – So lautet Freuds Resümee über den Sinn des Traumes. Der Träumer, zuerst in Fred, dann in Pete, schließlich in Fred’ repräsentiert, kommt in seinem Wunsch nach sexueller Befriedigung zweimal an den Punkt einer verweigerten Wunscherfüllung. Worauf ihm der Traum zweimal untaugliche Auswege präsentiert. Dem Traum als "Hüter des Schlafs" gelingt es gerade noch, ein Aufwachen zu verhindern. Beim ersten Mal, als Fred bei Renee versagt, (akustisch begleitet vom "Sirenengesang" Elisabeth Frasers wie auch in der Pete/Alice- Sequenz) reduziert die Beseitigung des Problems durch Beseitigung der "Ursache" (also Renees) die Spannungszustände im Subjekt ganz in der Art, wie sie in Freuds "Todestriebtheorie" beschrieben ist. Die damit verbundene Wiederholung lässt ihn nach der Metamorphose neu ansetzen. Petes Wunscherfüllung wird durch Alices "You’ll never have me" derart durchkreuzt (Todesdrohung vollzieht sich im  Nachgeben auf die Verlockung, dem Sirenengesang zu folgen. Siehe Kapitel “Andere Töne- Andere Orte), dass er nach nochmaliger Metamorphose wieder auf einen neuen Startpunkt zurück darf, eingeschlossen der Lernerfahrungen, die sein jugendliches Ego machen musste. Dafür muss der Träumer aber das "Damenopfer" in Form der Auflösung der Repräsentation des Objekts in Kauf nehmen: Renee verlässt das Lost Highway Hotel, setzt sich ins Cabrio und fährt aus dem Film. Die dritte, angedeutete Metamorphose, wieder durch die Todesdrohung angeheizt(Polizeisirenen repräsentieren die Drohung), wird durch das Traum/Film- Ende unterbrochen. Die Wunscherfüllung wird nicht verneint, sondern aufgeschoben, wiederholt wie in Träumen, die ein Unfallopfer insistent heimsuchen. Und Fred ist ja Opfer eines "sexuellen Unfalls". Allerdings eines, das jedem Subjekt in der "verfehlten Begegnung" zustößt. Oder in den Worten Jacques Lacans: "Insoweit eine Aufgabe unerledigt ist, kommt das Subjekt auf sie zurück. Je schmerzlicher ein Mißerfolg gewesen ist, desto besser erinnert sich das Subjekt daran." [22]

 
Einfacher ist da die kleine Episode, in der Mr. Eddy einem Drängler mit vorgehaltener Pistole eine Predigt über die "Verkehrsregeln" hält, zu deuten. Hier wird schlicht einem Vergeltungswunsch entsprochen. Zudem ist sie als reverses Echo der übrigen Autofahrszenen zu denken. Auf den Lost Highways ist es immer dunkel, die Straßen sind eben. Andersherum hier: Die Szene mit der Verkehrs- Predigt spielt sich im Sonnenschein, im Gebirge auf geschwungener, staubiger Straße ohne Markierungen ab.

 

Lacan spricht:

Die Welt ist allsehend, aber sie ist nicht exhibitionistisch - sie provoziert nicht unsern Blick. Wenn sie anfängt den Blick zu provozieren, setzt auch schon das Gefühl des Befremdlichen ein. Was besagt dies anderes, als daß im sogenannten Wachzustand der Blick elidiert ist. [23]

 

Anders bei Lynch, denn dort gibt es keinen Wachzustand, weshalb sich psychische Funktionen auch objektivieren, personalisieren. Im psychischen Innenraum wird groß A als Tod, Blick, Kamera, meist in Form des Mystery Mans repräsentiert. Zitat Lacan:"Umgekehrt ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will" [24] - Die glotzenden Totenaugen des Mystery Mans treffen Fred, den sie im Bett aus Renees Gesicht heraus, filmtechnisch durch ein Ineinanderblenden gelöst, anstarren. An dieser Stelle kommt niemand an Lacans Beispiel für die Auftrennung von Sehen und Blick in Hohlbeins Gemälde "Die zwei Gesandten" vorbei.

 

Gehen Sie langsam aus dem Raum, in dem das Bild Sie gewiß lange festhielt. Dann, wenn Sie sich wenden - der Autor des genannten Buchs über die Anamorphosen hat es beschrieben - erblicken Sie -einen Totenschädel. [25]

 
Lynch benötigt keine Anamorphose, um den nichtenden Blick des Anderen zu verbergen. Die Logik des Horrorfilms erlaubt es ihm, ja zwingt ihn, Verborgenes offen zu zeigen. Bezeichnender Weise offenbart sich die Funktion Tod, Teufel in einem klassischen Szenario, dass Lynch als Filmtraum zu sehen vorgibt: Fred erzählt im Off- Ton und gleichermaßen direkt Renee, er habe einen Traum gehabt, sei in der Wohnung herumgelaufen, habe sie aber nicht gefunden, dann habe sie seinen Namen gerufen. Schließlich  habe er sie im Bett gesehen, jedoch sei das nicht sie selbst gewesen. Zuvor zeigt Lynch, wie der Teufel sich traditionell mit einer kleinen Wolke hinter dem Regal ankündigt. Fred liegt neben Renee, wacht erschrocken auf, sieht das Gesicht des Mephistos in das seiner Frau eingepasst und erschrickt erneut. Fred schaltet das Licht an und erblickt nun wieder Renees Gesicht. Da Fred Renee den Traum ebenfalls im Bett in der gleichen Position erzählt, weiß nun niemand mehr genau zu sagen, auf welcher Ebene wir uns jetzt befinden. Außer vielleicht Slovoj Zizek. Er zitiert in seiner Besprechung der DVD
im Klappentext der SZ-Edition des Films:

 
Die Logik ist die von Freuds Traum „Vater, siehst du nicht, dass ich verbrenne?“ – der Träumer erwacht, wenn der Schrecken des Traums unerträglicher wird als die Realität, flüchtet sich in die Wirklichkeit, um dem Realen des Traums zu entkommen.

 

Zwar bezieht sich Zizek hier auf die Szene der Verwandlung von Pete in Fred’, aber für die oben beschriebene Situation trifft die Analyse ebenso zu. Nur mit dem Unterschied, dass in der "Wirklichkeit" der Schrecken noch größer ist als im Traum.

Was nicht weiter wundert, da Lost Highway in traumlogischer Manier konstruiert ist. Hier gibt es kein Entkommen in die Wirklichkeit, denn es gibt kein Außen.

 

 

Schleifen

 
 

Kein Kritiker kann übersehen, dass Lost Highway als Endlosschleife bzw. wenn man das Fehlen des Außen in Anschlag bringt, als Möbiusband konstruiert ist. Sowohl Robert Blanchet(Circulus…) als auch Georg Seeßlen [26] haben darauf verwiesen. Sicher, Anfang und Ende des Films mit dem titelgebenden Lost Highway sind ähnlich, beinahe gleich. Auch, dass Fred am Anfang des Films einmal als Hörer der Nachricht von Dick Laurents Tod, dann als Fred’ deren Verkünder an sein Double ist, legt den Verdacht einer Endlosschleifen- konstruktion nahe. Genährt wird diese Vermutung durch die akustische Nachricht, dass Fred ein wegrasendes Auto hört, in dem mutmaßlich Fred’ sitzt.

 

 

Exkurs

 

Als kleine Differenzialanalyse möchte ich folgende klassische Interpretation wagen: Bei den Worten, die der Mystery Man Fred’ für den Zuschauer unverständlich ins Ohr flüstert, handelt es sich um den Auftrag, Fred die Nachricht vom Tod Dick Laurents zu überbringen. Fred’ fährt zum Haus von Fred. Fred sitzt derweil in Erwartungshaltung vor der Gegensprechanlage. In quasi hypnotischem Zustand ahnt er, worauf er seine Ohren auszurichten hat. Der Inhalt des Films ist als Erfüllung einer Rachephantasie Freds zu lesen. Als Pete tagträumt er sich in das Szenario eines klassischen Film Noirs. Fred insinuiert in seiner Eifersucht, Renee habe ein Verhältnis mit einem anderen Mann. Dessen Ambiente konstruiert er aus Renees Andeutungen über ihre undurchsichtige Vergangenheit. So stellt sich Fred den Liebhaber als omnipotenten Unterweltsboss vor. Allein dadurch lässt sich vor seinem gekränkten Ego die vermutete Untreue legitimieren. Der Ablauf ähnelt dem Muster, das Freud über "Maurys Traum" in der Traumdeutung ausführt. Darin erzählt Maury, dass er einen vollständigen Traum über die Französische Revolution, eingeschlossen seiner eigenen Guillotinierung gehabt habe. Beim Erwachen habe er gerade noch bemerkt, wie ein herabfallender Bettaufsatz seinen Nacken traf. Freud schließt daraus, dass der Trauminhalt schon fertig dagelegen habe und beim Eintritt des Außenreizes während des Aufwachens abgespult worden ist. [27]

Der somnambule Fred, in Rache- und Eifersuchtsphantasien versunken, hört als Außenreiz ein Signal, das anzeigt, dass auf der anderen Seite der Gegensprechanlage jemand den Einschaltknopf gedrückt hat. Wie in Trance reagiert Fred seinerseits entsprechend. Was er nun hört, klingt wie „Dick Laurent is dead“. Zwischen dem Hören der Worte und dem Realisieren des Inhalts spult sich der gesamte Film ab und ist demgemäß eine klassische Wunscherfüllung.

 

Exkurs Ende

 

 
 

Für mich gibt es zwei ineinandergreifende Modelle, die Sinn und Unsinn der Endlosschleife illustrieren. Ein kinemathographisches und ein psycho-technisches.

Kinemathographisch ist die Endlosschleife die Illustration des Filmvorführens selber. Jeder Film zeigt seinen Inhalt mitsamt Figuren und Handlung nur so lange, wie er vorgeführt wird. Danach wird er (in nichtdigitalen Zeiten) zurückgespult, um erneut abgespielt zu werden. Godard hat die Implementierung des Vorgangs in seinem 1965 gedrehten Film Alphaville bereits exekutiert. Lemmy Caution, Agent 003 der Außenwelt, erreicht um 24 Uhr 17 Minuten ozeanischer Zeit die Außenbezirke von Alphaville, um 23 Uhr 15 Minuten verlässt er sie wieder. Sein Handeln hat die Uhr zurückgedreht, der Film kann nun erneut gestartet werden. Bei Godard wird zwar nicht exakt die ganze Spielzeit zurückgedreht, aber es handelt sich ja schließlich um eine virtuelle/ozeanische Zeitstruktur, wie es sich für eine Traumzeit gehört. Mit Alphaville hat Lost Highway zusätzlich noch die Binnenreferenzialität gemein und das Orpheus/Euridyke- Motiv. Zwar wird in Alphaville immerzu von Außenwelt gesprochen, jedoch leidet die "Befreite Welt", wie schon die Namen von Städten (z.B. Tokyorama) zeigen,  an kinemathographischer Irrealität.

Im Übrigen tappen die Figuren in Alphaville ebenso ferngesteuert somnambul durch die futuristische Stadt wie das Personal des Films Letztes Jahr in Marienbad(1961) von Alain Resnais und Alain Robbe-Grillet. Auch dieser Film ist wie eine Endlosschleife konstruiert und in mancher Hinsicht das Urbild aller autoreferenziell- postmodernen Kinematographien. Folgerichtig ist den Darstellern aller drei Filme in ihrer scheinbaren Ausdruckslosigkeit besonders schlechte Schauspielkunst attestiert worden. Noch ein kleines Detail am Rande: Resnais/Robbe- Grillet platzieren in ihr Werk als Hommage an Hitchcock dessen ikonographisches Bild als Schattenriss, überdimensional von der Decke herab hängend. In Lost Highway kann man das Signet, obwohl es nie zu sehen ist, überall entdecken. (Eine schöne Aufgabe wäre es, die "Silencio- Sequenz" aus Mullholland Drive mit der Theater- Szene vom Anfang des Marienbad- Films zu vergleichen).

 

Gedreht, verschoben und wiederholt, bildlich so etwas wie eine Doppelhelix sind die beiden beinahe identischen Bilder nahe der Spiegelachse von Lost Highway positioniert. Fred wächst unter Schmerzen im Gefängnishof eine blutende Beule aus der Stirn. Sie befindet sich auf seiner linken Stirnseite. Der Betrachter sieht Freds Kopf aus Perspektive eines virtuellen Gegenübers, sie erscheint ihm deshalb rechts. Pete trägt die gleiche Beule auf seiner Stirn, allerdings auf der rechten Stirnhälfte. Das Ganze ist über die Schulter Petes gefilmt, der seinen Kopf in die Kamera dreht. Dem Betrachter erscheint die Markierung folgerichtig ebenfalls, und diesmal korrekt, rechts. Dem DVD- losen Kritiker könnten sie identisch erscheinen. Das Gegenteil ist der Fall. Die blutenden Markierungen sind Zeichen für zerfallende Identität, nur in reverser Richtung. Fred produziert sie unter der Drohung der Zerstörung seiner noch vorhandenen Lebensidentität, bei Pete verschwindet die Markierung mit der kompletten Übernahme seiner Rolle. Noch zweimal kehren die Kopfschmerzen als untrüglicher Sensor der Erinnerung an die zurückgelassene Rolle wieder. Einmal, als Pete während seiner Arbeit in Arnie’s Garage eben jenes Freejazz- Solo aus dem Radio vorgespielt bekommt, zu dem Fred in Teil 1 des Films ansetzt. Ironischer Weise beklagt sich ein Arbeitskollege (Eraserhead!), Pete hatte inzwischen einen anderen Sender eingestellt, bei ihm, dass er den Sender gewechselt habe. Ihm, dem Arbeitskollegen, habe die Musik doch gefallen. - Sicher, Automechaniker hören bevorzugt Freejazz statt z.B. den klassischen Countrysong Lost Highway von Hank Williams, den Song vom verspielten Leben. - Falls man jedoch die Uneindeutigkeit/ Mehrdeutigkeit von Personen und Szenen in Lynchen Werk berücksichtigt, bleiben zusätzliche Interpretationen möglich. Sowohl die Figur in der Rolle des Arbeitskollegen könnte ironisch aus ihrer Rolle heraus einen Witz angebracht haben, wie auch der Autor Lynch, dem ansonsten die Szene als "zu dick" angekreidet werden könnte. Oder, da es sich um einen traumanalogen Film handelt, könnte die Figur als deiktischer Wink, Wiederkehr des Verdrängten, gelesen werden. Die Lynchtechnik lässt jedes Element mit dem passenden Kommentar aus der Szene, zur Szene, aus ihrer entlarvenden Eindeutigkeit reißen.- Mehr dazu im Kapitel "Doppel- Whopper".

 
Ein zweites Mal dreht sich es sich in Petes Kopf. In dem Moment, als er in Andys Haus die Hauptfigur der projizierten Filmschleife und Alice leibhaftig vor seinen Augen als ein und dieselbe Figur erkennt. Seine Kopfprobleme steigern sich beim Anblick eines Fotos, auf dem Andy rechts, Mr. Eddy links, neben Mr. Eddy Renee, neben Andy Alice zu sehen ist. Auch hier sind es die Reminiszenzen an das Leben Freds, die die Attacken in Petes Kopf auslösen. Bild und Arrangement des dazugehörenden Interieurs sind übrigens spiegelsymmetrisch angebracht.

 

Ergiebiger ist da schon die psycho-technische Bedeutung der Endlosschleife. Lacan benennt den Zusammenhang treffend, wenn er schreibt, dass:"[…] all das, was zu einem wesentlichen Fortschritt für das menschliche Wesen gehört, den Weg einer hartnäckigen Wiederholung durchlaufen muß." [28]

So wird uns denn in Lost Highway die immergleiche Story des Lebens (aus männlicher Perspektive) von der verfehlten sexuellen Begegnung vorgespielt. Die Rückseite der sexuellen Begegnung als Endlosband zeigt sich dem adoleszenten Pete als projizierte Filmschleife in Andys Haus. Die von Freud sogenannte "Urszene" zeigt sich beinahe unzensiert und ist somit die technologische Implementierung des psychischen Vorgangs der Wiederholung eines bekannten traumatischen Topos’, nicht des Traumas als solchem. Freuds "Wolfsmann" kam in seinen Träumen insistent auf verschobene Beobachtung eines Geschlechtsakts a tergo der Eltern zurück. Lynch führt nun dessen filmtechnisches Pendant vor.

 
Schon Lacan hat die Analogie zwischen Kino, Phantasma und Trauma benannt:

 
Im Folgenden geht es darum, den Ort des Realen zu bestimmen, der vom Trauma zum Phantasma führt, - sofern nämlich das Phantasma immer nur einen Schirm (écran im Original, Anm. MT) darstellt, dessen Funktion es ist, ein absolut Erstes, in der Funktion der Wiederholung Determinierendes jedem Zugriff zu entziehen [29]

 
Ein Film wie Lost Highway kann sich aufgrund seiner Struktur immer wieder dem definitiven Zugriff entziehen wie ein x-beliebiger Traum, der ja ebenfalls nie endgültig in seinem Sinn oder Ursprung dingfest zu machen ist.

 
In der Konsequenz kennen Film und Traum weder zeitliche noch räumliche Grenzen. Inzwischen kann es niemanden mehr verwundern, wenn sich hierfür in Lost Highway naturgemäß Repräsentanzen auffinden lassen. Der klarsichtigen Elfriede Jelinek ist genau das aufgefallen:

 

Zeit und Raum sind zu einem leuchtenden Strich zusammengeschoben, also, wie gesagt: reduziert, aufs Äußerste reduziert, wie der Tod das Leben zunichte macht, die absolute Reduktion selbst ist, und plötzlich öffnet sich diese zerknüllte Papiertüte bzw. der leuchtende Strich weitet sich, fächert sich auf, und die eigentliche Handlung, jenseits jeder Logik und Erklärungsmöglichkeit, beginnt von neuem, beginnt nun erst richtig, wird aus der Tüte herausgeschleudert, obwohl die Tüte samt Inhalt doch soeben noch dermaßen klein zusammengeknüllt war. Oder war gar nichts drin? Es beginnt sozusagen ein zweites Leben nach dem ersten, oder war das zweite vor dem ersten, oder doch umgekehrt? Im Film ist das möglich.  In der Kunst kann es möglich werden, sonst nirgendwo. [30]

 
Momente der Absenz, der Todesdrohung, produzieren beim Subjekt einen Lebensfilm mit traumanalogen Sequenzen. Lost Highway zeigt das paradigmatische Modell Autounfall/Tod/Wiederholung, in drei Teile aufgefaltet. Natürlich in der Hinrichtungssequenz, also genau an der Wendestelle, von der Jelinek spricht. Beim nachträglichen Rekonstruieren von Lost Highway ist die beschleunigte Variante der Anfangs- und Schlusssequenz mit den auf den Betrachter zurasenden Fahrbahnmarkierungen der Ursprung für die beiden an den Filmrändern angebrachten Teile. Gestützt wird die Diagnose dadurch, dass die Achse auch grafisch in der Mitte der Straße angebracht ist. Die Mittelstreifen verdoppeln sich, durchbrochene Markierungen lagern sich links und rechts an. Pete steht in der Spiegelachse als Anhalter am rechten Highwayrand. Wenn man die linke Seite schreibanalog als erste Hälfte annimmt, ist Pete exakt an der richtigen Stelle postiert. Er erscheint genau dort, wo nach dem Tod, dem Unfall, dem Trauma, die Wiederholung ansetzt. Für den TM-Anhänger Lynch könnte der Ort, den die Spiegelachse markiert, auch den Raum der Seelenübergabe von Fred an Pete darstellen.

 
Übrigens kann man Mulholland Drive aus dem Jahr 2001   komplett als Film aus dem Jenseits, oder dem Kopfkino einer Sterbenden abgenommen, lesen.

Der Freudschüler Theodor Reik hat in seiner Studie über den Schrecken diese spezielle Aktivität der Psyche als film avant la lettre beschrieben:

 
Eine besondere Beschleunigung des Vorstellungsablaufes scheint so […] der Traumarbeit eigen zu sein. Wir erinnern uns indessen, dass dies keine Besonderheit nur des Traumes sein kann. Personen, die sich in Gefahr des Ertrinkens befinden oder von einer großen Höhe abstürzen, sehen in wenigen Sekunden viele Szenen aus ihrem Leben wie Filme, die sich außerordentlich rasch aneinanderreihen, vor sich abrollen. [31]

 
Oder umgekehrt, von der Seite des Films aus gesehen, schreibt Münsterberg:

 
The massvie outer world has lost its weight, is has been freed from space, time and causality, and it has been clothed in the forms of our conciousness. The mind has triumphed over matter and the pictures roll on with the ease of musical tones. [32]

 
Der Idealfilm ist nicht länger als ein Lidschlag oder eine kurze, unwillkürliche Kopfbewegung. Das wäre: ein Bild,  Schnitt, ein Bild. [33] (Zitat/Magisterarbeit- Der Film- Ein Lidschlag)

 

   

Andere Töne- Andere Orte

 

Bernd Holland notiert am 26.02 2007 in der New York Times zu Neuwirths Opernadaption:

 
Die Oper erweitert das Hintergrundbrummen des Films zu einem flatternden Strom von Störgeräuschen, der sich verwandelt und verbiegt, als drehe man am Knopf eines Kurzwellenradios.

 
Damit löst Neuwirth die grundlegende akustische Ebene des Films auf. Zizek hingegen identifiziert die ultratiefen Brummtöne als Stimme, die niemand wahrnehmen kann, als akustisches Abbild einer Proto-Sprache des real Unmöglichen im Sinne Lacans. [34] Der slowenische Philosoph beschreibt hier die Wirkung der lynchtypischen Töne in dessen erstem Spielfilm Eraserhead(1977). Was für Eraserhead gilt, trifft potenziert erst recht auf Lost Highway zu. Filmtechnisch sind extrem tiefe Töne immer schon dem Horrorfilm zugeordnet gewesen. Oft sind sie mit einer verzerrten Teufelsstimme assoziiert. Für einen Amerikaner, dem die deutsche Sprache fremd ist und der die tiefe Stimme des Rammsteinsängers, begleitet von noch tieferen Elektro-Bässen, hört, muss sie wie eine Höllenstimme vorkommen. So ertönt sie folgerichtig zum ersten Mal, als Pete in Andys Haus die Projektion der "Urszene" erblickt. Der Titel des Stücks "Heirate mich" beschreibt nicht nur Petes Wunsch nach einer Verbindung mit Alice, sondern ist auf einer dunklen akustischen Ebene ein Kommentar zur Verbindung der Hauptfigur mit Mephisto, den Teufelspakt eingeschlossen.

Als Gegenstück dazu können die Sirenengesänge gelten. Sie begleiten zum Beispiel die traumatisch- sexuelle "You’ll never have me"- Szene. Hierin kann erneut die Lynch-typische Ver- Wendung von Musikmaterial beobachtet werden. Der Titel Song To The Siren von Tim Buckley aus den 70ger Jahren wird unter der Stimme Elisabeth Frasers (Cocteau Twins) zum Gesang einer Sirene. Mythenbewanderte sind gewarnt! Wer nicht an einen Pfahl gebunden ist oder die Ohren mit Wachs ausgegossen hat, muss mit Unheil rechnen. Pete hört Musik vom falschen Radio-Kanal. Wieder einmal. Denn Alice hatte unbemerkt im Autoradio des Mustangs, mit dem sie und Pete zur Beuteübergabe in die Wüste zum Treffen mit dem Hehler (Mephisto)gefahren waren, einen anderen Sender eingestellt. Und so folgt, was folgen muss: Den Lockgesängen Alices erlegen, prallt Pete mit seinem Begehren brutal auf die in süßem Zungenschlag vorgetragene Verweigerung, während im Off der Song die Szene akustisch begleitend kommentiert, bis dissonante Töne ihn ablösen. Die Szene bildet die negative Entsprechung zur "Magic Moment" -Sequenz, ebenso, wie das helle Licht in beiden die Antwort auf die Schwarzfilm- Momente im Film abgibt.

Die Gesänge sind ebenso de- realisierend wie die Brummtöne. Doch haben die tiefen Töne schon rein wahrnehmungstechnisch durch ihre Nicht- Ortbarkeit die Eigenschaft sich quer zur Filmhandlung zu bewegen. Sie suppen aus den Lautsprechern, bilden das akustische Pendant zu den in erster Linie illustrierenden Songs von David Bowie, Lou Reed oder Marilyn Manson.

 
"Nicht nur „Hypnose entrückt an einen anderen Ort, der der ’Ort des Anderen‘ ist [35] ,auch der Traum oder der Film. Dort hört man eine „Stimme, eher als eine Person, eine Stimme, die nur aus dem Radio(bei Lacan TV) kommend zu denken ist, eine Stimme, die nicht eksistiert, da sie nichts sagt." [36] So ist es dann nur folgerichtig, wenn der Mystery Man am Ende seine Botschaft an Fred für den Rezipienten unhörbar ins Ohr flüstert.

 

 

Doppel- Whopper

 

Was wird uns in Lost Highway aufgetischt? Dem geübten Filmanalytiker fällt neben dem reichhaltig ausgebreiteten Schatz an filmhistorischen Topoi sofort die inhärente Selbstkommentierung einzelner Sequenzen auf. Sehr schön in der Szene zu beobachten, in der der Mephisto Fred auf Andys Party davon überzeugen will, dass er sich im Augenblick in Freds Haus befindet, obwohl er gerade vor ihm steht. Fred kommentiert: "That’s fucking crazy, man." Darauf fordert der Mystery Man Fred auf: " Call me!" Als Fred ihn fragt, wie er dorthin gekommen sei, antwortet die Stimme aus dem Mobiltelefon: "You invited me".

Der Betrachter weiß zunächst nicht mehr als Fred selbst. Deshalb ist dessen Entrüstung vollkommen verständlich und ein Spiegel einer möglichen Frage des Zuschauers, dem spätestens jetzt die Kontinuität von Zeit und Raum genommen wird. Die Aufforderung des Mystery Mans: "Call me!" initiiert den "Anruf", der später als "You invited me" umgedeutet wird. Der Mephisto wird also nicht mehr rituell- religiös angerufen, sondern technisch implementiert per Mobiltelefon. Die körperlose Stimme aus dem "anderen Raum" hat den gleichen Status wie der doppelte Fred an den beiden Seiten der Gegensprechanlage. Stimmen vom "anderen Ort" sind Stimmen des Unbewussten. Sie sind für das Subjekt in jeder Hinsicht "wahr", oder anders: "Der Signifikant ist vor allem befehlend." [37] Fred hat keine Wahl, er muss den Mephisto mit dessen Mobiltelefon anrufen, er kann seine Sätze nicht bezweifeln. Und so muss er den Teufelspakt eingehen und muss für die Richtigkeit des Satzes vom Tod Dick Laurents sorgen.

 
Eine andere Form des gesprochenen Kommentars innerhalb einer Szene formuliert ein Gefängniswärter zu seinem Chef, nachdem er Pete anstelle von Fred in der Gefängniszelle gesehen hatte: "This is some spooky shit we got here." Immer dann, wenn die "Geschichte" einen willkürlichen Verlauf nimmt, gibt es eine Figur, die diese Unlogik formuliert, gewissermaßen die Nahtstellen durch tautologische Kommentare verwischt. Denn es kann ja kein "spooky shit" sein, weil die Autoren diesen Satz ja ins Drehbuch geschrieben haben. Den Trick, eine Person über die wahrscheinliche Unwahrheit des Gesehenen sprechen zu lassen, um die Wahrheit des Filmgeschehens zu untermauern, ist vor allem aus den B- Filmen der fünfziger Jahre bekannt. Wenn die Ufos gerade auf der Erde gelandet sind, kommt immer eine schlaue Person daher, die die Filmwahrheit ignoriert und dafür eine böse Bestrafung erfährt. Tim Burton parodiert genau dies in seinem  Film Mars Attacks in extenso.

 
Sehr viel spannender zeigt sich eine Ballung von Kommentar/ Verdopplung auf optisch- akustischer Ebene. Am schönsten in der Szene, in welcher Pete Alice zum ersten Mal sieht und sich instantan in sie verliebt. Lynch tut alles, damit dem Betrachter die Bedeutung dieser Szene auch genau so ins Hirn gestanzt wird.

Alice steigt in variablen Geschwindigkeiten, vor allem in Zeitlupe, aus Mr. Eddys Cabrio. Ausgestiegen bewegt sie sich auf den Mercedes von Mr. Eddy zu. Sie blickt kurz über die Schulter von Mr. Eddy zu Pete, der sie wie paralysiert anstarrt. Darauf folgt ein zweiter Blick von Alice zu Pete, begleitet von einer Kopfdrehung, die ihre blonden Haare im hellen Gegenlicht aufleuchten lassen. Anschließend blickt sie länger mit nochmaliger reverser Kopfbewegung zu Pete, während sie rückwärts auf den Beifahrersitz schwebt. Pete ist immer noch wie erstarrt. Schließlich signalisiert Alice mit einem wie zufällig erscheinenden Lidschlag Pete ihre Sympathie, unterstrichen durch eine leichte Kopfbewegung, die als Einladung interpretiert werden kann. Noch zweimal folgt identisches Lidsenken. Darauf fixiert Alice Pete mit einem anhaltenden Blick. Pete kann dem Blick nicht standhalten, fühlt sich möglicherweise in seinem Starren ertappt, antwortet seinerseits mit einem leichten Abwenden des Kopfes, gefolgt von einem Lidschlag, der als Antwort gedeutet werden kann. All das zeigt die Kamera, aber es bleibt ungewiss, ob beide Figuren das Geschehen nach dem ersten erotisch aufgeladenen Lidsenken von Alice noch wahrnehmen, da inzwischen die Autotür mit der getönten Scheibe geschlossen wurde und so möglicherweise eine direkte Kommunikation unterbindet. Sicher jedoch ist, dass Pete sich nach seiner "Antwort" im Reich der Imagination befindet. Lynch wählt dafür die romantisch kodierte Landschaftsaufnahme in einer Morgen-Abendröte- Stimmung, die er weich neben und durch Petes Kopf hindurch einblendet. Akustisch gedoppelt wird dieser Augenblick durch Lou Reeds Song This Magic Moment.

Das Ganze erinnert an ein Musikvideo. Hier wie dort geht es um eine Verdopplung. Nur umgekehrt. Das Musikvideo illustriert die akustische Botschaft, der Filmausschnitt wird akustisch dupliziert. Sowohl der Song wie die Filmszene könnten ohne ihre medialen Verdopplungen eigenständig und verlustfrei existieren: Sie sind überflüssig. Zudem hat allein schon die starke Dehnung des Augenblicks durch die Zeitlupe den Charakter einer unnötigen Verdopplung. Sie zeigt die technische Implementierung eines kurzen, für das Subjekt wichtigen  Augenblicks, der im Bewusstsein eine ausgedehnte Zeitdauer annimmt und so deren Bedeutung unterstreicht. Lynch macht das meiner Ansicht nach auch aus dem Grund, weil er auf diese Weise alte Topoi durch "Überdeterminierung" noch einmal ver- wenden kann, die sonst nur als Klischees wiedererkannt würden. Gelegentlich kommt bei mir sogar der Eindruck auf, Lynch habe seinen Film entlang einer Linie exakt für diesen Zweck neu gedrehter Musikvideos komponiert.

 

 

Automedialität

 

 
Fred, Pete, Renee und die anderen leben in einer Retro- Welt, zusammengesetzt aus Elementen der Film– und Designgeschichte.

Der bevorzugte Zeitraum erstreckt sich von den 40ger bis 70ger Jahre des 20ten Jahrhunderts. Veraltete Technik aus der Mediengeschichte wie etwa der Filmprojektor in Andys Haus illustrieren Lynchs Liebe zum Detail. Wahrscheinlich wurde sogar Andys Bart vom Bild eines Schauspielers abgenommen.

 

Wir schreiben das Jahr 1997, die Entwicklung der technischen Medien ist weiter vorangeschritten. Überwachungskameras können Bewegungen in Echtzeit aufzeichnen. Wie Renee den zwei Polizisten erzählt, hält Fred angeblich nichts von der modernen Technik. Gleichwohl besitzt er ein modernes Fernsehgerät und einen Videorecorder. Und er macht Gebrauch davon. Er schiebt ein letztes Video in das Abspielgerät und sieht sich selbst neben der Leiche Renees. Zuvor aber waren er und Renee von Andys Party zurückgekehrt. Szenenbeschreibung: Renee blickt im Badezimmer beim Abschminken auf ihr Spiegelbild. Fred wird zur gleichen Zeit wie magisch von einem dunklen Gang in seinem Haus angezogen, verschwindet darin. Renee erspürt das Unheimliche der Situation, dreht sich um. Fred erblickt im dunklen Gang seinerseits sein Spiegelbild. Renee sucht ihn mit den Worten: "Fred?, Fred, where are you?", wie sie es schon in Freds Traum? getan hatte. Sie bleibt vor dem dunklen Gang, den sie nicht erkennt, stehen. Fred kommt aus dem dunklen Gang hervor, blickt in die Kamera, geht an ihr vorbei, es folgen einige Sekunden Schwarzfilm. Die Kamera zieht auf und gibt den Blick frei auf etwas, was wie eine Tür aussieht. Nachdem Fred die Kassette eingelegt hat, kann der Zuschauer erkennen, dass die mutmaßliche Tür die Detailaufnahme des Fernsehgeräts zeigte.

Ein großer Teil der Szenerie stammt aus Cocteaus Orphee (1949). Darin betritt Orpheus die Unterwelt durch einen flüssigen Spiegel. Mal abgesehen von den Parallelen zu Petes Geschichte, der ja schließlich auch eine Frau aus den Klauen des Unterweltbosses reißen möchte, ist die Oberfläche der Kamera, der Spiegel, der Schirm, die Haut, die die Wirklichkeitswelt vom Unbewussten trennt, auch die Schwelle, die beide Sphären miteinander verbindet. Deren Inhalt wird von der Videotechnik ebenso unterschiedslos aufgezeichnet, wie es das Unbewusste mit der menschlichen Wahrnehmung und seiner psychischen Bewegung tut. Zitat Kittler: "Das Unbewusste als ´Diskurs des Anderen´ hat technologischen Status…Nur Maschinen sind eben imstande, das Reelle an und jenseits der Sprache zu speichern." [38] Deshalb kann die Kamera Freds Mordtat aufzeichnen, die von seinem Bewusstsein als nie geschehen abgespalten wurde. Oder mal wieder auf die Traumebene zurückgeblendet, die er als Beseitigung seines Problems sich wünscht. Lynchs Film wird hier automedial.

 
Edgar Morin beschreibt die psycho-technische Implikation des Sehens:

 
Der psychische Seh-Akt scheint von einem Auge geleitet zu sein, das über den Kopf hinausragt, einem langstieligen, weil umherschweifenden, fern von einem Ansatzpunkt sich bewegenden Auge. Alles geht so vor sich, als gäbe es jenseits der Grenzen des organischen Sehens, außerhalb unseres materiellen Wesens den Zugriff eines anderen Selbst, welches den psychischen Seh-Akt trägt und aufnimmt. "Ich habe den Eindruck gehabt, ich wäre außerhalb meines Körpers. [39]

 
Lost Highway  ist voll von Out- Of- Body- Erfahrungen. Nicht zuletzt die Metamorphosen zeigen Figuren, die wortwörtlich "aus der Haut" fahren.

Mephisto und Kamera sind aneinandergekoppelt. Sie zeichnen, im Film sichtbar gemacht, alles Reale, also alles auf. Der Mephisto selbst braucht keine Videokamera, um aufzuzeichnen, wie Fred’ im Lost Highway Hotel Mr. Eddy überwältigt und dann in den Kofferraum sperrt. Seine Augen allein genügen. Lost Highway ist ein anderer Name für den "Anderen Ort", der als "Ort des Anderen", also dem Unbewussten nach Lacan, die Heimat  Mephistos ist.

Wir, die Kinozuschauer, sehen den Film Lost Highway gewissermaßen durch die Augen Mephistos.

Der Mystery Man reicht im Showdown den modernen Taschenfernseher an Mr. Eddy weiter. Dick Laurent sieht dort seine Wahrheit, sein Leben aufgezeichnet. Und nebenbei entlarvt er auch Renees Lüge, sie wisse nicht mehr, um welchen Job es beim Kennenlernen von Andy gegangen sei. Sie ist in dem Snuff- Video(Blue- Movie)in blauem Fernsehlicht, seltsamerweise vom Film-Projektor an die Wand geworfen, und in Farbe auf der Wirklichkeitsebene, als Betrachterin im Saal, zu sehen. Damit übernimmt die videotechnische Aufzeichnung die Funktion, die Ronald Reagen in Tod eines Killers noch selbst vornehmen musste. Angesichts seines Todes gesteht er Lee Marvin, dass er gelogen habe und bestreitet die Wahrheit nicht mehr.

Der Taschenfernseher fungiert auch als Videokamera und zeigt den Mystery Man neben Fred’ in blauem Licht. - Beide gehören, der Wahrheitsfunktion des Mediums gemäß und dem Teufelspakt geschuldet, zusammen.

Der Mystery Man erschießt Dick Laurent. Er hält mit der Waffe an derselben Stelle auf den Gangsterboss an, an der er zuvor mit "vorgehaltener Videokamera" Fred’ nach seinem Namen gefragt hatte. Fred’ war unter der "Todesdrohung" in den Mustang gestiegen und zum Lost Highway Hotel gerast/geritten, um Mr. Eddy zum Ort des Showdowns zu bringen. Erneut hat er, wie schon zuvor, den Auftrag Mephistos, also seinen eigenen Wunsch, instinktiv erkannt.

Kamera und Pistole sind hier identisch. Das hat eine lange kinematographische Tradition. Statt sie auszubreiten, hier nur ein Zitat von Friedrich Kittler:

 

Die Geschichte der Filmkamera fällt also zusammen mit der Geschichte automatischer Waffen. Der Transport von Bildern wiederholt nur den von Patronen. Um im Raum bewegte Gegenstände, etwa Leute, visieren und fixieren  zu können, gibt es zwei Verfahren: Schießen und Filmen. [40]

 

 III

 


Das schwarze Zentrum

 

 
Der Traum ist eine Wunscherfüllung, und der Mephisto ist ein Wunscherfüller. Kein Wunder, dass man auf dem "Königsweg zum Unbewussten", dem Lost Highway, zwangsläufig auf ihn trifft. Und das mit Folgen: Seelenlose Gestalten irren auf ihrem Lebensweg umher oder folgen einem Befehl, dessen Herkunft und Richtung sie nicht zu kennen scheinen.
Erst recht Fred Madison nicht,und Hank Williams kommentiert:

 

Just a deck of cards and a jug of wine
And a womans lies makes a life like mine
O the day we met, I went astray
I started rolling down that lost highway.

 

Das Zentrum von Lost Highway (des Films) wird von einem schwarzen Loch gebildet, das alles, was in seine Nähe gerät, ansaugt, vernichtet, um es verändert wieder auszuspucken, erneut anzusaugen und so weiter. Wie oben mit Hugo Münsterberg gesprochen: "The photoplay tells us the human story" aus der Perspektive ihrer Nachtseite. Jean- Luc Godard lässt in Alphaville, dem Ort des Unbewussten, folgende Wahrheit aussprechen:

 
LEMMY: Ich bin gegangen, weil ich kein einziges Wort verstanden habe von dem, was gesagt wurde.
NATASCHA: Aber das war doch ganz einfach. Heute haben wir gelernt, dass Leben und Tod im selben Kreis existieren. [41]

 
Für den TM- Propagandisten David Lynch ist das keine Neuigkeit, sondern selbstverständliche Gewissheit. So lautet mein Fazit: Lost Highway  ist eine Illustration des Lacanschen Satzes:

 
Das Leben ist in das Symbolische nur zerstückelt, zerfallen einbezogen, es hat teil am Todestrieb. Das menschliche Wesen selbst steht teilweise außerhalb des Lebens. Allein von da aus vermag es sich dem Register des Lebens zu nähern. [42]

 

 

Grenzen des Verfahrens

 

 
Wer beständig seinen Blick nach innen richtet, dem kommt die Außenwelt allmählich abhanden. Lynchs Recyclingmethode verwertet bereits Verwertetes erneut. Andreas Kilb benennt diesen Umstand: "Es gibt fast kein Motiv in 'Lost Highway', das nicht aus anderen Lynch-Filmen vertraut wäre; so entsteht ein Sog des Wiedererkennens, der viele Erklärungen überflüssig macht." [43] Nicht allein aus seinen eigenen, auch aus den abgelagerten Motiven der Film- und Fernsehgeschichte stopft Lynch seine Wiederverwertungsmaschine. Damit teilt er eine künstlerische Methode, die Iris Radisch ebenso Elfriede Jelinek zuschreibt:

 
Ihre Bücher sind leer. Und wollen es sein… Es gibt nur eine einzige Materie und von dieser wie zum Ersatz unerschöpflich viel: Müll. Menschenmüll, Naturmüll, Beziehungsmüll, Liebesmüll, Familienmüll, Medienmüll, Sprachmüll. [44]

 
Hier müsste eigentlich eine Diskussion über die Methoden postmoderner Kunstproduktion folgen. Allein, so weit soll sich die Untersuchung nicht vom Gegenstand entfernen. So lasse ich eine Figur aus dem grandiosen Roman Unterwelt des postmodernen Schriftsteller Don Delillo sprechen:

 
Wir bauten Müllpyramiden, über- und unterirdisch. Je gefährlicher der Müll war, desto tiefer versuchten wir, ihn zu versenken. Das Wort Plutonium  kommt von Pluto, dem Gott der Toten und Herrscher der Unterwelt. (Don Delillo, Unterwelt. Roman. Übersetzt von Frank Heibert. Köln 1998, S. 127.)

 

Lynch hat das Verdienst, mit Lost Highway eine besondere Pyramide gebaut zu haben, an deren Wände wir sehen, wie die Bildergeschichte unseres Lebens vorüberzieht.

 

 

Ende

 

 

 

© Michael Thamm 2009



[1] Slavoj Zizek, The Art of the Ridiculous Sublime. On David Lynch’s Lost Highway. Seattle 2000.

[2] Robert Blanchet. Circulus Vitiosus. Spurensuche auf David Lynchs Lost Highway mit Slavoj Zizek. Online Originalbeitrag, Cinetext, Mai 1997.

[3]Elfriede Jelinek, Lost Highway. In: Profil, 44/2003.

[4]   Ebd.

[5] Sigmund Freud, Die Traumdeutung. Studienausgabe, Bd. II. Hrsg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Ffm 1996, Anm., S.298f.

[6] Vgl. Ekkehard Knörer, Originalkritik zu Lynchs Inland Empire. In: www.perlentaucher.de/artikel/3846.html

[7] Zitiert wird hier immer aus der SZ- Cinemathek Edition. 5.LostHighway. 2005.

[8]Blanchet, Circulus Vitiosus

[9] Vgl. Zizek, The Art of…, S.11:” The enigma of this new femme fatale is that although, in contrast to the classic femme fatal, she is totally transparent (openly assuming the role of a calculating bitch, the perfect embodiment of what Baudrillard called “trasparency of Evil”), her enigma persists.”

[10] Vgl.Jacques Lacan, Das Seminar über E.A. Poes “Der entwendete Brief”. In: ders. Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Olten und Freiburg 1973, S. 7-41.

[11] Friedrich Kittler, Grammophon,Film, Typewriter. Berlin 1986, S. 240.

[12] Hugo Münsterberg, The Film. A Psychological Study. The Silent Photoplay in 1916.Reprint. New York 1970, S. 15.

[13] Vgl. Tzvetan Todorov, Einführung in die fantastische Literatur. München 1972, 143, zitiert bei Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 96.

[14] Friedrich Kittler, Romantik-Psychoanalyse-Film: eine Doppelgängergeschichte.In: ders. Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S.96ff.

[15] Vgl. Herbert Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf- Wien, S. 15.

[16]Jelinek, Lost Highway … .

[17]Freud, Die Traumdeutung…, S.286.

[18]Ebd., S. 294.

[19]Münsterberg, The Film…, S. 94.

[20]Blanchet, Circulus Vitiosus

[21] Zizek, The Art…, Kapitel 6:Fathers, Fathers Everywhere, S.32.

[22] Das Seminar von Jacques Lacan. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Hrsg. von Norbert Haas. VII. Der Kreislauf. Olten 1980, S. 115

[23] Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan. Buch XI. Hrsg. von Norbert Haas. Olten und Freiburg 1980, S.81.

[24] Ebd., S.109.

[25] Ebd., S.94f.

[26] Georg Seeßlen, Lost Highway- Ein endlos geflochtenes Band. In: Filmbulletin 2, 97. 39. Jahrgang. Heftnr. 211. April 1997.

[27]Vgl. Freud, Die Traumdeutung…, S.52f.

[28]Lacan, Das Ich in der Theorie…, S.116.

[29]Lacan, Die vier Grundbegriffe…, S.66.

[30]Jelinek, Lost Highway.

[31] Theodor Reik, Der Schrecken. In: ders. Der unbekannte Mörder. Psychoanalytische Studien. Ffm, S.276.

[32]Münsterberg, The Film…, S.95.

[33] Michael Thamm, Psycho-Technik. Untersuchungen zu den frühen Filmen von Jean-Luc Godard. Unveröffentlichtes Manuskript/Magisterarbeit 1990. Teiresias Verlag. Köln oder: http://www.textundweb.de/godard/titel.htm

[34] Slavoj Zizek, David Lynch oder deutscher Idealismus im Kino. In: Riss. Zeitschrift für Psychoanalyse. 12.Jahrgang Nr. 39/40, Zürich 1997, S.199.

[35] Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis. In: ders. Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig 1993, S. 49.

[36] Jacques Lacan, zitiert bei Kittler, ebd. S.51. Ursprünglich: Jacques Lacan, Television. Paris 1973, S.47.

[37] Jacques Lacan, zitiert bei Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis…, S.27. Ursprünglich: Lacan, Le seminaire, livre XX: Encore. Paris 1975, S.33.

[38]Friedrich Kittler, Draculas Vermächtnis…, S.50.

[39] Edgar Morin, Der Mensch und das Kino. Eine anthropologische Studie, übers. von Kurt Leonhard. Stuttgart 1958, S.130.

[40]Friedrich Kittler, Grammophon, Film…, S.190.

[41] Alphaville. Screeplay, übers. von Peter Whitehead, London 1969, S.38.Hier wieder von mir aus dem Englischen. MT.

[42] Jacques Lacan, Das Ich in der Theorie Freuds…, S.119.

[43] Andreas Kilb, Eine Art Jenseits. DIE ZEIT 16/1997.

[44] Iris Radisch, Die Heilige der Schlachthöfe. Ein Schock: Die große Regionalschriftstellerin Elfriede Jelinek bekommt den Nobelpreis für Literatur. DIE ZEIT 43/2004, S.44.