Kreuzungen

 

 Als ich Fiona McLardy  im Frühjahr 2008 zum ersten Mal sah, stellte sie im "Atelierhaus Alte Schule" in Essen - Steele die für sie charakteristischen Malereien aus, in denen sich Außen- und Innenräume, Außen - und Innenwelten halbtransparent verschachteln. Ich erinnere mich auch an den dort anwesenden Christian Gode. Wir stritten uns damals über den künstlerischen Wert der Arbeiten von David Lynch, speziell über den Film "Lost Highway“. Er hielt ihn für ein grandioses Kunstwerk, ich für einen Schmarren.

In der Folgezeit bin ich beiden Künstlern immer wieder begegnet, lernte auch andere Mitglieder des "Kunst Kollegiums kunst (off) raum essen kennen, zu denen beide gehören. Einer Verbindung von Künstlern, die leerstehenden Ladenlokale oder andere verwaiste Räume jenseits von Galeriekonventionen durch Kunstinterventionen auf Zeit in einen anderen Zustand versetzt. Einige der "Kollegen“ beteiligten sich bei der "Kunstspur" 2008 und 2009 im Atelierhaus. Nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit Godes Position zu Lynch brachte mich dazu,  meine Haltung zu überdenken und mich eingehender mit "Lost Highway" zu befassen.

Schließlich besuchte ich die bis dato dritte eigenständig organisierte  gemeinsame Ausstellung des Kollegiums in der Rellinghauser Straße im Winter 2009/10. In den leerstehenden Räumen einer ehemaligen Änderungsschneiderei hatten die Künstler die Präsentation ihrer Arbeiten optimal dem verfallenden Charme der alten Räume angepasst. Benedikt Sunderhaus zeigte ein Video, das von der Nicht – Sichtbarkeit  über die Teil – Sichtbarkeit beim Betrachter die aberwitzigsten Assoziationen hervorrief, bis endlich die Videokamera die Ansicht eines nächtlichen Bewegungsbildes der Straße vor der Schneiderei freigab. Andersherum bei Candia Neumann: Zunächst glaubte ich, auf den  Fotografien von "barm - herzig" noch eine reale, aber seltsame Raumansicht von Krankenhausbetten mit merkwürdigen weißroten Kaninchen gesehen zu haben, musste meine Vorstellung aber revidieren, als ich im zweiten Teil der Arbeit das als Vorlage dienende abfotografierte Modell mit Wärmelampe erkannte und erfuhr, dass die Kaninchen tatsächlich eingefrorene Mäusebabies waren, die als Schlangenfutter in Zoohandlungen angeboten wurden.

 Zwischen den Städten des Ruhrgebietes und innerhalb ihrer Grenzen haben sich durch den Strukturwandel Zonen gebildet, von denen zu Recht behauptet werden kann, sie seien wüst, öde und leer -  neu entstandene terra incognita. Dass Räume aber auch immer Identitäten definieren, konnte ich an den wechselnden Namen eines Ladenlokals ablesen. An der Ecke Viehofer Straße – Kasteienstrasse in der Essener Innenstadt befand sich während meiner Schulzeit ein alternativer Plattenladen: "Amsterdam Record Shop", später "Pop Shop". Über die Jahre mutierte das Lokal zu Grillbuden mit insignifikanten Namen wie" Diogenes Grill" oder "Artemis Grill" oder so ähnlich. Heute befindet sich dort die Pizzeria "Amigo II".

Während im Englischen das Wort "waste" in seiner Bedeutung etwa dem deutschen" wüst" und "ungenutzt" gleichkommt, kann die französische Entsprechung "vaste" mit positiveren Assonanzen aufwarten. Es darf als Synonym für "weit, ausgedehnt, unermesslich oder vielseitig" eingesetzt werden. - In der Geografie, wie im psychischen Innenraum:

"Nach alledem scheint es, dass die beiden Räume – der Raum der Innerlichkeit und der Raum der Welt – durch ihre 'Unermesslichkeit' zum Einklang gebracht werden" (Gaston Bachelard, Poetik des Raumes).

 Als Verbindungsstück zwischen Rottstraße und Viehofer Straße liegt die Kasteienstraße versteckt in der von Erosion gezeichneten nördlichen Essener Innenstadt. Dort, im Haus Nummer Zwei, präsentiert  das Kollegiums kunst (off) raum seine nunmehr vierte Ausstellung. Obwohl die weißen Räume hier eher dem gewohnten Rahmen einer Kunstausstellung entsprechen, wird die Schau der Off - Raum - Idee gerecht, wenn man die Zone der näheren Topografie mit einbezieht.

War der "Lost Highway" bei David Lynch noch eine Metapher für den Ort des  erschreckenden Unbewussten, so bietet der Off - Raum der neuesten Ausstellung des "Kollegiums" eine andere Chance: Die Chance der Begegnung von äußeren und inneren Räumen in ihren ausgedehnten Dimensionen.

Michael Thamm 2010